Distanzen

 Wieder wich ich zurück. Wir hatten nun die Gasse schon dreimal im Zickzack durchquert – ich rückwärts, er im Vormarsch. Mein Bekannter, ziemlich angetrunken, war auf Bargespräche eingestellt, die ja nur nah am Ohr und in hoher Lautstärke funktionieren. Also grölte er mir mitten in der Zürcher Altstadt aus nächster Nähe ins Gesicht. Ich, nüchtern und im Nachtleben noch nicht ganz angekommen, wich seiner Bierfahne aus, indem ich rückwärtsgehend versuchte, den angemessenen Abstand von einer Armlänge wiederherzustellen. Er jedoch schloss ständig auf, und so zirkelten wir zwischen den Häuserreihen hin und her.

 Der Inhalt der gebrüllten Worte war an mir vorbeigegangen. Mein Bekannter hatte es nicht böse gemeint, und aufdringlich gewesen war er auch nicht. Aber das Distanz-Missverständnis war unbehaglich.

 

Bin ich gefährlich?

 

Abstand ist bedeutsam. Sozialdistanzen in Japan sind anders als jene in Marokko, und die an einem Geschäftsmeeting anders als jene an einem Kneipenkonzert. Liebende stehen näher als Freunde. Distanz spricht. Wir sollten ihr zuhören, um Missverständnisse zu vermeiden. Denn wie das Näherrücken als Aufdringlichkeit verstanden werden kann, so auch das Zurückweichen als Abweisung.

 

Zu Beginn der Corona-Krise wurde uns der Abstand von zwei Metern verordnet: ein vollständig ausgeklappter Meterstab. Die instinktive Empfindung für die angemessene Distanz wurde durch eine weltweite Verordnung ersetzt und mit Bodenmarkierungen sichtbar gemacht. Geliebte Menschen sollten nicht mehr umarmt werden: gerade weil man sie liebt. Die Bedeutung von Nähe und Distanz verkehrte sich in ihr Gegenteil. Auch der Händedruck als Zeichen von Interesse oder von Handelseinigkeit sowie als körpersprachliche Informationsquelle wechselte seine Bedeutung. Die Handfläche wurde zu einem nackten und unreinen Ding, das täglich viele Male gereinigt werden muss. Und das offene Lächeln, das bis anhin hiess «Ich bin nicht gefährlich» verdrehte sich ins Gegenteil: Neu bedeutete umgekehrt das Abdecken des Lächelns ebendies, nämlich mit einer Maske, und die Entblössung des Mundes bedeutete Gefahr. Das herkömmliche Lesen der Körpersprache galt nicht mehr, und alle waren wir verunsichert.

 

Mit dem Verlust der Nähe haben wir viel verloren. Wir brauchen den Austausch und den Abgleich mit anderen, um nicht zu komischen Käuzen zu werden. Über unmittelbare körperliche Nähe erhalten wir wichtige Signale. So gibt uns die Körperspannung einer Person Auskunft über deren Gemütslage. Wir erhalten olfaktorische Informationen, die für die Partnerwahl wichtig sind, und können überhaupt klären, wie wohl wir uns neben jemandem fühlen. Und wir können unsere Angenommenheit prüfen: Bin ich in einer Gruppe nur geduldet oder werde ich auch geschätzt? Und wie ist es an der Seite eines geliebten Menschen?

 

Nach zwei Jahren sind die Massnahmen gefallen. Da stehen wir nun mit verwirrten Instinkten. Sauber sind wir geworden. Und wo uns früher ein schlechter Atem zurückweichen liess, ist es heute möglich, jemanden mit der ausgestreckten Hand durch eine Gasse zu jagen.

 

Karin Schneider - März 2022